Die Sammlung von Sabina Muzzarelli Mitter,
die sie mir zeigt, sind Steine. Herzsteine. Herzen aus Stein. Steine in Herzform. Steine, die fast wie Herzen aussehen, wie vorgestellte Herzen, denn Herzen, organische Herzen, sind bestenfalls herzförmig, sie ähneln in ihrer Form dem Symbol für die Liebe, dem Zeichenherz, dem symmetrischen Zweikammerzeichen, Sitz der Seele, des Glaubens, der Weisheit, der Tapferkeit, der Treue, Unstetigkeit der Gefühle, je nach Zeit, Kultur und Glaube.
Einst hatte Peter Minsk dem Holländer Michel im Schwarzwald sein lebendiges Herz gegen ein Steinherz ausgetauscht, um steinreich und damit auch eiskalt zu werden, denn es fehlte ihm nicht an Gefühl, aber an Verstand. Nach einer Katastrophe trickste Peter Minsk mit Hilfe des Glasmännchens den Holländer Michel aus und erhielt sein Herz zurück, nebst seiner Mutter und seiner toten Frau, dank seiner toten Frau, nachzulesen bei Wilhelm Hauff.
Herzsteine sind von der Natur so geformt, wenn auch nicht lebendig. Sabina also sammelt Naturherzen, sie sind nicht vergänglich, aber aus Stein. Aber? Ja. Sie zersetzen sich nicht, kompostieren nicht, brechen selten, bleiben nicht stehen, blühen nicht, aber sie können verschwinden. Verschleppt werden. Jemand kann sie verlieren. Der erste Stein, der von Sabina gefunden wurde, das war 1991, am Flussbett der Landquart im Sommer, es kann nicht Winter gewesen sein, sie hätte ihn dann unter dem Schnee nicht gesehen, sie sass also auf einem Stein mit Dominique unter dem Herzen, wie man sagt, und sah den Herzstein und nahm ihn mit sich nach Hause. Andere Steine kamen dazu, geschenkte, gefundene, von manchen weiss sie nicht, wie sie ins Haus kamen. Sie sei oberflächlich, sagt Sabina, das sagt sie oft, sie erinnere nicht wie andere die Geschichten, die Zeiten und die Orte, manchmal nicht mal die Personen zu den Steinen. Oberflächlich? Nein. Sie braucht Raum, Platz, Luft zum atmen und mag es nicht, wenn alles voll gestellt ist, es blockiere den Kopf, verstopfe die Gedanken, sie könne dann nicht atmen und nicht denken, es laste schwer – sie zeigt auf Herzgegend und Lunge. Die Mutter? Die Mutter sammle vieles, viel Schönes, viel nicht Schönes, die Tochter auch. Sie sei dazwischen und sorge für Klarheit. Vielleicht ist es das, die Lust an Klarheit und die Unlust an Vertüttelung, Unklarheit, Belastung, Verdichtung, Staub, Füllkram, sentimentaler Verniedlichung von Raum, Erzählung. Die Steinvase, Loch im Stein mit Reagenzglas als Wasserbehälter, das ginge. Das gefällt ihr. Das steht mit einem Zweig in ihrer Küche. Man könnte Zen dazu sagen, wenn das nicht wieder Verniedlichung wäre, so eine Zuschreibung. Sabina will auch nicht zugeschrieben werden, nehme ich an.
Es gab eine Pause mit den Herzsteinen, einen abrupten Unterbruch, er ist durch einen Schock passiert, nach einer Trennung von ihrem Mann zuerst und dann Auszug aus dem Haus und Einzug in eine Wohnung. In der neuen Wohnung haben die Steine erst mal draussen gelegen, zwischen den Tulpen, zur Eingewöhnung. Dazu kam es nicht, zur Eingewöhnung. Ein Trupp Bauarbeiter rückte ohne Voranmeldung an und räumte skrupellos Tulpen und Steine weg und dämmte das Haus. Die Dämmung sei gut. Der Schock sei gross gewesen. Keine Steine, keine Tulpen und für längere Zeit auch keine Herzsteinsammlung mehr. Sie habe ihr Herz nicht mehr an die Steine hängen können. Sie wollte nicht mehr an ihnen hängen. Sie wollten sie auch nicht mehr verlieren können. Sie hatte keine Lust mehr auf Steine.
Die neue Sammlung fing mit einem Stein zu ihrem Geburtstag an, Jonathan gravierte das Datum 19.04.08 ein und ein Herz. Er schenkt ihr den Stein. Der Stein selbst ist eher nierenförmig. Ein subtiler neuer Anfang mit einem Übergangsstein. Langsam zogen die Steine dann wieder ins Haus. Ausser dem grossen im Schlafzimmer sind es Wandersteine. Sie liegen mal hier mal dort. Auf einen hat die Mutter Sabinas Kinderspitznamen geschrieben, der wird hier nicht verraten, und er ist auch nicht wieder zu finden. Er habe mal auf der Nähmaschine im Badezimmer gelegen, jetzt ist er weg. Andere liegen in einer Reihe im Schlafzimmer. Andere auf den Fensterbänken. Einen, den kleinsten, gab sie Jonathan mit zu Prüfung, er hat sie bestanden. Jeder Mensch sammelt irgendetwas, sagt Sabina, so gesehen, ist sie glimpflich davon gekommen. Sie sammelt stellvertretend für das Sammeln, Steine. Das geht noch. Das staubt wenig. Das vermehrt sich nicht. Das nimmt wenig Platz ein. Die Steine sind handlich und hosentaschentauglich. Sie kommen und gehen. Wenn jemand ein Stein besonders gefällt, dann verschenkt ihn Sabina. Es ist mit den Steinen eine begrenzte Sammelleidenschaft in Schach gehalten und doch ist die mögliche Aufladung der Steine beträchtlich.
Beträchtlich und freiwillig. Der Steine können etwas Bestimmtes bedeuten, müssen aber nicht, und sie zeigen es nicht. Die Steine selbst sind Stellvertreter und vertreten die Stelle, an der eine unbezähmbare Sammelgier ausbrechen könnte. Sie sind ein Damm gegen die Sammelwut und die Bestückungsneigung z.B. der Mutter und der Tochter, gegen das wuchernde Chaos, gegen die Unordnung, gegen das Übermass an Dingen.
Ja. Sie sei rigoros mit dem Wegschmeissen von Dingen, auch geschenkten, was ihr nicht gefällt, kommt weg, sofort. Nichts bleibt in ihrer Wohnung, was sie nicht will. Aber, wie hat es der vergoldete Engel auf ihren Schrank geschafft? Und wie hat er es geschafft, da zu bleiben? Erstaunlich, findet auch Sabina. Es gibt also blinde Flecken in den ansonsten klaren und geklärten Bereichen.
Es gibt eine Zeit nach und eine Zeit vor dem Desaster mit dem Bautrupp. Sie hänge ihr Herz nicht mehr so an die Steine, aber ihr sei nun auch klarer, dass sie es vorher überhaupt getan habe, ihr Herz dran gehängt und zaghaft wieder tut, es herstellt, das kathektische Band zwischen sich und den Steinherzen. Vielleicht würde sie Leuchttürme sammeln, sagt sie plötzlich, wir stehen vor einem Leuchturm, ca 30 cm hoch, sie wolle einmal in einem Leuchturm Ferien machen, da hängt auch ein Bild von einem Leuchtturm an der Wand, mitten im Meer. Gesehen hat sie noch keinen, in der Natur. Seltsam, gnadenlos würde sie alles vernichten, was rum steht und Staub fängt, sie könne sich aber auch vorstellen, den Steinen, wie in der Pathologie den Leichen, Zettel anzuhängen mit Datum und Uhrzeit, nur haben die Steine keine Zehen. Und dann dies: sie sammle Werbung, gute, stelle Videotapes her, sie würde gerne einmal die Werbung sehen, die sie verführen könnte, Dinge zu brauchen und zu kaufen, die sie nicht braucht. Sie sei nämlich immun gegen Werbung. Sie würde auch gerne solche Werbung erfinden, die in der Lage sei, Bedürfnisse in den Zuschauern herzustellen. Was hat das mit den Steinen zu tun? Alles. Wie hat es der Engel auf den Schrank geschafft? Das ist der Schlüssel. Die Frage aber ist: will sie den Schrank? Und will sie zum Schrank ein kathektisches Band?